Kommentierte Rechtsprechung


Verfassungsmäßigkeit der Entfernungspauschale

Es bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken dahingehend, dass durch die Entfernungspauschale sämtliche gewöhnlichen wie außergewöhnlichen Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und regelmäßige Arbeitsstätte abgegolten werden.

BFH v. 15.11.2016 – VI R 4/15

Problem: Der Kläger machte in seiner ESt-Erklärung für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte (Entfernung 43 km) die tatsächlichen Kosten von 0,44 €/km geltend. Das FA berücksichtigte die geltend gemachten Wegekosten hingegen lediglich in Höhe der Entfernungspauschale. Die nach erfolglosem Vorverfahren erhobene Klage wies das FG ab (FG Nürnberg v. 29.7.2014 – 7 K 784/13, EFG 2015, 1184).

Lösung des Gerichts: Der BFH hat die nur begrenzte Abziehbarkeit der Aufwendungen für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte für verfassungsrechtlich unbedenklich gehalten und legt dementsprechend den Streitfall nicht nach Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG dem BVerfG vor.

Abgeltung „sämtlicher“ Aufwendungen: Nach § 9 Abs. 2 S. 1 EStG sind durch die Entfernungspauschalen „sämtliche Aufwendungen“ abgegolten, die durch die Wege zwischen Wohnung und regelmäßiger Arbeitsstätte veranlasst sind – es sei denn, es handelt sich um Aufwendungen für die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Diese können nach § 9 Abs. 2 S. 2 EStG auch angesetzt werden, soweit sie den als Entfernungspauschale abziehbaren Betrag überschreiten.

Kein Überschreiten des gesetzlichen Regelungsermessens: Mit dieser Regelung hat der Gesetzgeber das ihm eingeräumte Regelungsermessen nicht überschritten. Vielmehr erweisen sich diese – berufliche Mobilitätskosten nur eingeschränkt berücksichtigenden – Regelungen für den Grundfall – die immer wiederkehrenden Fahrten zu einer regelmäßigen Arbeitsstätte – als sachgerechte und folgerichtige Ausnahme vom objektiven Nettoprinzip (vgl. BFH v. 6.11.2014 – I R 21/14, EStB 2015, 87 = BStBl. II 2015, 338). Eine Verletzung von Grundrechten des Klägers durch die Anwendung der im Streitfall werbungskostenabzugsbeschränkend wirkenden Entfernungspauschale liegt daher nach Ansicht des BFH nicht vor.

Konsequenzen für die Praxis: Gestaltungspielraum des Steuergesetzgebers: Die verfassungsrechtliche Einschätzung des BFH orientiert sich an der ständigen Rechtsprechung des BVerfG zum Gestaltungspielraum des Steuergesetzgebers (BVerfG v. 9.12.2008 – 2 BvL 1/07 u.a. BVerfGE 122, 210), der im Bereich des Einkommensteuerrechts vor allem durch zwei eng miteinander verbundene Leitlinien begrenzt wird:

  • durch das Gebot der Ausrichtung der Steuerlast am Prinzip der finanziellen Leistungsfähigkeit und
  • durch das Gebot der Folgerichtigkeit.

Die für die Lastengleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG) im Ein­kommensteuerrecht maßgebliche finanzielle Leistungsfähigkeit bemisst der einfache Gesetzgeber nach dem objektiven und dem subjektiven Nettoprinzip.

Außerfiskalische Förderungs- und Lenkungsziele des Steuergesetzgebers: Diese nicht neue Erkenntnis nutzt der BFH vor dem Hintergrund des Klägervortrags, sich auch mit der Ausnahmeregelung nach § 9 Abs. 2 S. 2 EStG verfassungsrechtlich auseinanderzusetzen: Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist der Steuergesetzgeber grundsätzlich nicht gehindert, auch außerfiskalische Förderungs- und Lenkungsziele aus Gründen des Gemeinwohls zu verfolgen. Er darf nicht nur durch Ge- und Verbote, sondern auch durch mittelbare Verhaltenssteuerung auf Wirtschaft und Gesellschaft gestaltend Einfluss nehmen. Der Bürger wird dann nicht rechtsverbindlich zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet, erhält aber

  • durch Sonderbelastung eines unerwünschten Verhaltens oder
  • durch steuerliche Verschonung eines erwünschten Verhaltens

ein Motiv, sich für ein bestimmtes Tun oder Unterlassen zu entscheiden. Verfolgt der Gesetzgeber erkennbar solche Förderungs- und Lenkungsziele, können sie steuerliche Belastungen oder Entlastungen rechtfertigen, sofern die Regelung gleichheits- und zweckgerecht ausgestaltet ist.

Privilegierung der Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel verstößt nicht gegen Gleichheitssatz: Dementsprechend stellt der BFH fest, dass insbesondere auch in dem Umstand, dass der Gesetzgeber Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel von der abzugsbeschränkenden Wirkung der Entfernungspauschale ausgenommen hat, kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz zu erkennen ist. Denn diese Regelung ist erkennbar von umwelt- und verkehrspolitischen Zielen getragen. Der Umstand, dass diese Verkehrsmittel insbesondere gegenüber dem motorisierten privaten Individualverkehr in Bezug auf den Primärenergieverbrauch und den Ausstoß von Treibhausgasen umweltfreundlicher sind, rechtfertigt deren Privilegierung.

Privilegierung auch für Taxis? Dem steht nicht entgegen, dass u.U. die Privilegierung sich auch auf Taxis erstrecken könnte (so FG Düsseldorf v. 8.4.2014 – 13 K 339/12 E, juris). Der BFH lässt die einfachrechtliche Frage, ob es sich bei Taxis um öffentliche Verkehrsmittel handeln könnte – auch eher fraglich, weil nicht regelmäßig verkehrend – offen und hält verfassungsrechtlich dagegen, dass jedenfalls der Gesetzgeber bei der Ordnung von Massenerscheinungen berechtigt ist, die Vielzahl der Einzelfälle in dem Gesamtbild zu erfassen, das nach den ihm vorliegenden Erfahrungen die regelungsbedürftigen Sachverhalte zutreffend wiedergibt. Auf dieser Grundlage darf er grundsätzlich generalisierende, typisierende und pauschalierende Regelungen treffen, ohne allein schon wegen der damit unvermeidlich verbundenen Härten gegen den allgemeinen Gleichheitssatz zu verstoßen. Er darf sich dabei grundsätzlich am Regelfall orientieren und ist nicht gehalten, allen Besonderheiten jeweils durch Sonderregelungen Rechnung zu tragen (BVerfGE 122, 210 m.w.N.).

Beraterhinweis: Klagebefugnis? In diesem Zusammenhang ist prozessual darauf hinzuweisen, dass die u.U. gleichheitswidrige Begünstigung einer Gruppe (z.B. hier die Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel) nicht ohne weiteres einem Nichtbegünstigten zu einer Klagebefugnis verhilft, denn durch den Gleichheitssatz kann kein allgemeines und generelles Abwehrrecht eines jeden Steuerpflichtigen gegenüber solchen Rechtsvorschriften begründet werden, die zu einer gleichheitswidrigen Steuerentlastung führen (vgl. hierzu BVerfG v. 26.7.2010 – 2 BvR 2227/08, 2 BvR 2228/08, BVerfGE 17, 438).

PrHFG Lothar Aweh, Kassel

EStB 2017, 49

201738030157